Musical
Im Aargäu sind
zweu Liebi


Ein Musical über die Stadt Rheinfelden zwischen 1444 -1449, im Haus der Beginen unter Verwendung von Liedern aus dem „Röseligarten“.
Als Kätherli, meine Grossmutter, damals ein junges Mädchen, ‚Dahlle’ jenseits der Staffelegg, hinter sich liess, um nach Basel in die grosse Stadt zu ziehen, zerrissen sich die Leute im Dorf die Mäuler. Als ihr Vater sie zwei Wochen später - unter Tränen - zurückholen musste, hatten es alle ja schon vorher gewusst. Ein Jahr später wagte sie allen zum Trotz einen zweiten Versuch und diesmal kam alles richtig: Nachdem sie ihren Paul, einen Lokomotivführer auf den grossen Dampfloks der 20ger Jahre, getroffen und geheiratet hatte, wurde sie zum Basler-Gotti. Und wieder hatte das Dorf es immer schon gewusst. So sind die ‚Geschichten, die Geschichte’ erzählen: Alltag, der einen gemeinsamen Nenner schafft und das ist das, was man finden und erfinden muss, will man Bezüge schaffen zu vergangenen Welten und zu Menschen, mit denen wir nichts mehr gemeinsam haben, ausser dass sie eben unsere Vorfahren waren. Sie haben schon die Äcker gepflügt, auf denen wir heute unseren Weizen anbauen, und aus ihnen sind auch wir gewachsen. Im Moment, in dem wir den Bezug zu ihnen verlieren, verlieren wir uns selbst und werden zu Laub im medialen Wind unserer Zeit.- Der Vater meines Grossvaters väterlicherseits war als Webstuhlschreiner von Wölflinswil nach Basel gezogen, wo er eine geborene Basler heiratete. Meine Patin - mit ihrem Mann Abwart im Historischen Museum in der Barfüsser Kirche in Basel - nahm mich als Jungen früh morgens mit auf die Pfalz, um zu sehen, wie Neptun aus den Wellen auftaucht; was er jeweils tat, sobald ich eingenickt war.
Nichts von alle dem kommt in ‚Im Aargäu sind zweu Liebi’ direkt vor. Aber ohne all diese Menschen, hätte ich in der Geschichte keine Geschichten finden können.
So fing und fange ich hier an: In einer jener Nächte, als ich am Steinenberg in einem uralten Haus, in einem hohen Zimmer, in einem viel zu grossen Bett lag und nicht einschlafen konnte, weil die Glocken der Elisabethen Kirche jede Stunde, gespenstisch, meinem Dösen ein entsetztes Ende machten. Bevor ich begann, für die Musikschule Rheinfelden/Kaiseraugst einen Beitrag zu „Geschichte die Geschichten erzählt“ zu schreiben, durchsuchte ich Karl Schibs ‚Geschichte der Stadt Rheinfelden’ nach einer Zeit, in der ähnliche Zusammenhänge wie heute die historischen Geschehnisse überschatteten. Instinktiv interessierte mich sofort jenes Rheinfelden, das heute nicht mehr zu sehen ist: Jene Urstadt, die 1448 ein jähes Ende fand und aus deren Trümmern das habsburgische Rheinfelden entstand. Die vorausgehenden Geschehnisse nach 1444 sind nicht nur die dramatischsten Jahre dieser Stadt, sie erzählen auch von einer Welt, in der sich unsere heute überraschend spiegelt:
Fand mit dem WWW 1995 die Gutenberg Galaxie ihr Ende, hatte sie zwischen 1452 und 1458 in Mainz und Strassburg ihren offiziellen Anfang genommen.

Also, als unsere Geschichten Geschichte machten, krachte es im Gebälk: Im Schatten der Auseinandersetzung zwischen Habsburg und den Eidgenossen multiplizieren sich schon die Druckpressen im ganzen europäischen Raum. Während diese Menschen lebten, lieben und sich gegenseitig zu Grunde richteten, hatte, ohne dass sie es bemerkt hätten, eine Neue Welt begonnen.
Als ich dann das Beginen Haus entdeckte - heute steht dort am Gustav Kaltenbach
Platz das Spycher Haus - und mich begann mit diesen Frauen auseinanderzusetzen, hatte ich jenen gemeinsamen Nenner gefunden, welcher den nötigen inhaltlichen und emotionalen Zugang schaffen konnte:
„Als Beginen... wurden ab dem 13. Jahrhundert die Angehörigen einer Gemeinschaft christlicher Laien bezeichnet. Beginen... führten ein frommes, keusches Leben in ordensähnlichen Hausgemeinschaften, wurden von der römisch-katholischen Kirche teilweise als häretisch gebrandmarkt und sahen sich der Verfolgung durch die Inquisition ausgesetzt. Zu Beginn der Frühen Neuzeit... schlossen sich die Reste der Glaubensgemeinschaft der Reformation an.“1
Dies ist aber nur die eine Hälfte der Geschichte: Nach komplexen Querelen wurden 1411 die Beginen in Basel verboten. Und nicht per se wegen ihres eigenständigen Glaubens, sondern weil die aufstrebenden, von Männern dominierten Zünfte in Menschen, die sich weder für Erfolg, noch für die Mehrung ihrer Güter interessierten, in erster Linie ein gesellschaftliches Übel sahen. Ein nicht betriebsames Leben, das auf Beten, Sozialarbeit und Betteln fokussiert war, und das vor allem älteren Frauen Schutz und Unabhängigkeit gab, war der erwachenden Mittelschicht ein Dorn im Auge.
Interessanterweise, sollten diese Frauen nun plötzlich ‚Erfolg’ mit ihren Unternehmungen
haben, waren die Reaktionen noch aggressiver. So wurden nicht selten ihre Häuser geschlossen und ihr Vermögen beschlagnahmt. Ebenso haben in vieler Hinsicht die Umstände, welche der Schleifung des Steins - der Burg auf der Rheininsel bei Rheinfelden - vorausgingen und folgten, mit Strukturen zu tun, wie wir sie im Moment in dieser Wirtschaftskrise wieder finden. Die Mythen, welche heute gesellschaftliche Blasen entstehen und platzen lassen, sind so anders nicht: Eine nicht ganz unverwandte Arroganz führte auch damals zum Untergang des zähringischen Rheinfeldens.
Alles gut und recht, aber das gibt uns noch keinen Schlüssel, keinen Zugang zu jener Schattenstadt, welche immer noch unter und hinter den Häusern der Marktgasse steht. Ein Musical-Libretto muss zudem in erster Linie die Geschichte und ihre Geschichten emotional auferstehen lassen. Nur ist die Musik jener Zeit ebenso versunken wie die Stadt selbst. Sie ist aber in ihren ganz eigenen Ruinen überliefert. Dies Urgestein beinhaltet unseren tatsächlichen „Tell“. In diesem „Im Röseligarten“ sind noch weitgehend authentische Echos zu hören. Wohl deshalb stürmt alle paar Jahre aus dieser späten Sammlung von „Reisläufer2- Liedern ein anderes unsere Charts:
Vom ‚Simmelibärg’, über ‚Stehts in Trure...’ bis zu jenen ‚Blümlein’, die ‚draussen zittern’ scheinen sie unverwüstlich und Teil dessen, was uns zu ‚Ortsansässigen’ macht.
Wer diese Lieder hören kann, kann auch verstehen, woher unsere heutige Welt kommt und das ganz gleich wo er geboren wurde. Plötzlich durchschaut er die Wände der Gassen der Altstadt und sieht dort eine andere: eine stolzere und eine fast vergessene...
Eine Stadt, die es wert ist, wieder aufzuerstehen als Spiegel unserer eigenen ‚Vanitas’, diesem Fegfeuer der Eitelkeit, welches wir, wie alle Menschen vor uns, unser Leben nennen, nennen müssen.  

1 Wickipedia > Beginen
2 Reisläufer sind Schweizer Söldner, welche einst die Basis unseres heutigen Wohlstands geschaffen haben.

Es ist kein Zufall, dass mit der Druckerpresse auch die Hexenverfolgungen ihren ernsthaften Anfang nahmen3. Nicht das dunkle Mittelalter sah den Höhepunkt dieser Angst von Männern vor Frauen, sondern eben diese Bruchstelle in die Moderne.
Zwischen der Schacht von St. Jakob 1444 und der Rückkehr zu etwas wie habsburgischer ‚Normalität’ 1448/49 fächert sich also eine Welt auf, die alles, was nun kommen wird, letztlich schon beinhaltete. Und darin sehe ich einen brauchbaren Ansatz dafür, dass Geschichten tatsächlich Geschichte erzählen können.
Aber das eigentliche Thema von „Im Aargäu...“ bleibt, wie bei jedem Musical, ‚die Liebe’ und ‚wer sie sich leisten kann’. 1374 war Francesco Petrarca gestorben, dem mit dem Sonnet auch die Erfindung der Liebe angedichtet wird. Somit war die oft beschworne dunkle Zeit des Mittelalters vorbei; der Mensch hatte gelernt ‚ich’ und damit auch ‚ich liebe’ zu sagen. Natürlich brauchte es noch ein paar Jahrhunderte bis zur erotisch aufgeladenen Industrie, die uns heute die Liebe erklärt und sie gleich noch mit vermarktet. Wichtig für „Im Röseligarte“, war, dass ein junger Schweizer Haudegen in einem Jahr als Söldner das Zehnfache dessen verdienen konnte, was der Hof seines Vaters abwarf, solang er denn die widrigen Umstände überlebte. Die „Lieben“ in ihrem „Aargäu“ hatten also ihre liebe Not zwischen einem Gefühl, das offiziell eben mal 50 Jahre alt war und der Wahrheit, dass man sich eine Beziehung erst mal muss leisten können. Dass die Liebe nun nicht mehr ‚des Teufels’ war, machte die Sache nicht einfacher; nicht für den Söldner, nicht für die Eltern und wohl wie immer, erst recht nicht für die junge Frau. All dies treibt die Lieder im ‚Röseligarte’ voran und zeigt uns Hoffnungen und Ängste einer Zeit, die, bei allem Unterschiedlichen, emotional soweit von unseren nicht liegt. Obwohl Romeo und Julia erst 1597 so schön zusammen sterben dürfen, ging mit der ‚Erfindung der Liebe’ auch gleich die des ‚mourir d’aimer’ - des Sterben aus Liebe - einher. So entsteht ein Spannungsfeld in dem sich unsere Figuren bewegen, und ob Menschen damals schlechter gelebt hatten als wir heute, mag jeder für sich selbst entscheiden.
Für das Bühnenbild, wie auch für die auf der Bühne gesprochene Sprache, suchte ich Bilder, die ebenso ehrlich und einfach, wie zeitgenössisch, und damit nachvollziehbar erscheinen. Deshalb wählte ich zum Beispiel für die Adligen ein Hochdeutsch,
das sich noch etwas am 19. Jahrhundert orientiert. Die ‚Leute aus dem Volk’ sprechen so, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, wenn auch noch etwas weniger verwässert, als das inzwischen bei uns üblich ist. – Das Bühnenbild muss die Enge und die Nähe, dieses, von uns aus gesehen, winzigen Städtchens erlebbar machen. So wählte ich bunte, etwa übermannshohe Stöcke mit Nägeln, zwischen denen farbige Wollfäden immer wieder neue Räume erstehen lassen können.
Als Gegensatz dazu läuft im Hintergrund eine Multi Media Powerpoint Präsentation auf drei Leinwänden. Ich habe versucht das heutige Rheinfelden so zu photographieren und zu verfremden, dass für einen Augenblick jene verschwundene Stadt und Zeit wieder sichtbar zu werden scheint. Damit entsteht eine Spannung zwischen etwas sehr Simplem und etwas, das für unsere neue, kommende Zeit steht. Dieser Kontrast steht somit sowohl für unsere, wie für die damalige Zeitenwende.
Wenn der Computer heute das Buch zu verdrängen beginnt, bleibt die Frage,
was wohl unsere Hexenverfolgungen sein werden? Welcher Schatten wird unsere
Schöne Neue Welt werfen? Und können wir im Spiegel durch die Zeit etwas für uns
mitnehmen, das uns einen Ansatz einer Antwort gibt?

3 Die Domikaner und Inquistoren Jakob Sprenger und Heinrich Kramer publizierten 1487 den ‚Hexenhammer’ und machten damit die Verfolgung unkonformer Frauen zur offiziellen Aufgabe der Kirche.


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